Inhalt: Auf einem Berg oberhalb des Brückendorfes, in einem abgelegenen Haus, lebt ein Junge mit seinen Eltern. Der Vater ist Schlüsselmacher und wird weithin für seine Kunst gerühmt. Oft steigen die Leute den Berg hinauf und tragen ihr Anliegen vor. Von den Schlüsseln erzählt man sich, dass sie magische Kräfte haben, und niemals sieht der Junge die Kunden seines Vaters ein zweites Mal. Doch dann wird er Zeuge einer grausamen Tat und muss hinunter ins Dorf fliehen. Die Leute dort erwarten ihn bereits und wollen wissen, was geschehen ist. Außer Atem, mit blutigen Händen und zitternd vor Angst erzählt der Junge, seine Mutter habe seinen Vater erstochen. Sicher ist er sich aber nicht. Vielleicht war es auch der Vater, der die Mutter getötet hat …
China Mieville: Dieser Volkszähler
(OT: This census-taker; 2016); Liebeskind 01/2017; ISBN: 978-3-95438-071-8; Seiten: ca. 176; Übersetzung: Peter Torberg; Ausstattung: Hardcover mit Schutzumschlag
China Mieville hat es seiner Leserschaft noch kaum jemals einfach gemacht. Für die Herausforderung hat er allerdings stets im Gegenzug eine Belohnung parat und das ist die stets aussergewöhnliche, einzigartige Geschichte, die er erzählt. Nicht viel anders verhält es sich mit diesem bescheidenen Bändchen, das der Verlag als Novelle bezeichnet – also ein Mini-Roman.
Hat sich Mieville stets gern der Zuordnung zu einem bestimmten Genre entzogen, so macht er es dieses Mal zu einer noch größeren Herausforderung. Als bezeichnet seine Werke als Weird Fiction, doch bis auf einige seltsame Ungereimtheiten, die irgendwie nicht in der Realität verankert scheinen, ist das Buch schon beinahe ein Drama in ländlicher Umgebung, eine Geschichte von Außenseitern und einem Dorf voller misstrauischer Leute. Dazwischen ein paar Sätze mit Andeutungen davon, dass wir uns in einer seltsamen, alternativen Realität befinden.
Dieser Volkszähler kann eine Alternativweltgeschichte ebenso sein wie eine postapokalyptische Erzählung oder einfach ein Drama, bei dem es ihm gefiel, Elemente der Irritation miteinzubauen. Ein surrealer, kleiner Scherz eines Autors mit ausgeprägtem Sinn für Seltsamkeiten und tiefschürfenden Gedankenwelten.
Der Protagonist der Geschichte ist auch der Erzähler – ist er das wirklich? Ist das, was er sieht und in seiner beinahe wortkargen Sprache erzählt, wirklich geschehen oder eine Ausgeburt seiner Fantasie? Unterliegt er einem drastischen Irrtum oder ist er gar geistig zerrüttet? Alles scheint möglich. Mieville liebt das Rätselhafte, wie er es eh und je getan hat, gleicht die relative Kürze dieses Werks mit einem herausfordernden Erzählstil aus und macht es noch schwerer, die verschiedenen Bewusstseinsebenen (mir fällt einfach keine andere Beschreibung dafür ein) des Buches zu ergründen.
Ich mag Mieville und finde ihn sehr lesenswert, weil es gerade sein oft herausforderndes Spiel mit Stilen, Realitätsebenen, Genres und Konventionen ist, dass originelle und einzigartige Werke hervorbringt. Er ist schlicht ein großer Phantast und dieses Werk, selbst wenn es die meiste Zeit nach einem Drama des Realismus wirkt, gehört zur Phantastik.
China Mieville ist ein herausfordernder Autor. Nicht allzu einfach zugänglich, stilistisch wie inhaltlich anspruchsvoll, sind seine Bücher mit ungewöhnlichen Bildern reich gefüllt wie eine Galerie des Surrealen. Dieser Volkszähler ist auf alle Fälle ein kleines, wunderbares Kabinettstück eines großartigen Autors in würdiger Ausstattung, die dazu angetan ist, Qualität und Anspruch des Textes treffend kundzutun.
Schlichter ausgedrückt: Sehr schön gemachtes Buch mit richtig guter Story.
Kurz gesagt:
- Herausforderung
- Genuss
- Kopfkino
Fazit: eine unbedingte Empfehlung an Leser, die Neues probieren wollen
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