GASTBEITRAG von ROBERT M. CHRIST
Vorbemerkung: Robert M. Christ, geb. 1947, ist seit Jahrzehnten im Fandom umtriebig und von dort nicht wegdenkbar. Beschäftigt sich seit den frühesten Jahren mit SF-Autoren und Künstlern, war in den 1980er und 1990er Jahren aktiver Gestalter von Super-8 Filmen, später Video, für u.a. die Wiener SF-Gruppe. Er ist bei den Treffen der SFGW ebenso anzutreffen wie aktiv beim Verein der Freunde der Volksliteratur. Für deren Vereinsmagazin verfasst er seit Jahren in Abständen Beiträge und Artikel. Eine Auswahl davon soll an dieser Stelle einem größeren Publikum präsentiert werden.
Beiträge von Robert Christ: über Fritz Leiber – über Clark Asthon Smith – über Gustav Meyrink – über Alfred Bester – über Dashiell Hammett – über Captain Future – über Virgil Finaly – über die Weird Tales – über Lonati – über Hannes Bok – über Der Orchideengarten – über Jack Williamson – über Johnny Bruck – über Margaret Brundage … weitere Beiträge folgen …
Der Orchideengarten und seine phantastischen Blätter
Meine erste Begegnung mit der Zeitschrift Der Orchideengarten (1919-1921) erfolgte in den späten 1970er Jahren durch die Entdeckung eines mehrseitigen Artikels The Magazines: Weird Tales and others (mit 7 Abbildungen) in Franz Rottensteiners’ berühmten illustrierten Buch The Book of Fantasy, erschienen bei Thames and Hudson, London 1978, in dem sich der Autor mit einer Auswahl von populären Publikationen diverser Magazine und Zeitschriften aus dem Bereich der Phantastik und Fantasy kritisch auseinandersetzte.
Zu Beginn der 1980er Jahre fiel mir die im Jahre 1918 erschienene, extrem seltene Probenummer jener Zeitschrift erstmals in die Hände. Mit Hilfe eines Sammlers und Liebhabers alter illustrierter Bücher gelang es mir, in den darauffolgenden fünf Jahren fast alle Ausgaben des Der Orchideengarten zu erwerben.
Die im Dreiländerverlag München (gegründet 1. Februar 1919) im Großoktavformat (21,5 x 30 cm) erschienene Zeitschrift Der Orchideengarten – Phantastisch Blätter gilt weltweit als das erste Magazin, das sich fast ausschließlich der phantastischen Literatur widmete; einige Jahre bevor das in den USA veröffentlichte, legendäre Pulp-Magazin Weird Tales (1923-1954) publiziert wurde.
Nach Franz Rottensteiners’ gründlicher Nachforschung dürfte jedoch die in Schweden, in einer miserablen Aufmachung, erschienene Publikation Hugin (1916-1920), das erste Fantasy-Magazin der Welt gewesen sein. Gefolgt von The Trill Book (1919), ein in den USA erschienenes, kurzlebiges Fantasy-Magazin, von Street & Smith publiziert, einem renommierten New Yorker Verlag, der ab den 1930er Jahren durch die Veröffentlichung der Magazine Astounding Science Fiction, Unknown und der Romanserie Doc Savage, The Man of Bronze, sich sehr erfolgreich in Szene setzen konnte.
In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhundert, in zahlreichen deutschsprachigen Magazinen und Zeitschriften stets präsent, strebte die phantastische Kunst in all ihren Variationen im Bereich der Graphik, Malerei, Musik, Fotographie und Film ihrem ersten Höhepunkt entgegen. Ich möchte an dieser Stelle stellvertretend für alle ungenannten, illustrierten, literarischen Magazine, auf die im Jahre 1904 in Wien, von Gustav Meyrink literarisch gestaltete, erschienene Zeitschrift Der liebe Augustin hinweisen.
In der 22. Nummer der in 24 Heften erschienenen Ausgaben, würdigte sie mit einer in Farbe gedruckten Sondernummer als Der grausige Augustin die phantastischen Literatur, im Besonderen mit einer Anzahl von ausgewählten Texten und unbekannten, frühen Zeichnungen von Alfred Kubin illustriert.
Der ursprünglich jeweils 14 tägig geplante Erscheinungstermin des Der Orchideengarten konnte wegen Papierknappheit und wirtschaftlicher Unruhen in den Nachkriegsjahren nur zeitweise eingehalten werden. Von den 51 erschienen Ausgaben des Der Orchideengarten wurden 1919 im 1. Jahrgang 17 Hefte mit der Doppelnummer 16/17 veröffentlicht, gefolgt mit 24 Heften im 2. Jahrgang 1920 und abschließend 10 Hefte im 3. Jahrgang 1921, mit den Doppelnummern 9/10 und 11/12.
Herausgegeben wurde diese literarische Heftreihe von Karl Hans Strobl* (1877-1946), einem damals sehr erfolgreichen österreichischen Autor des phantastischen Genres, der durch Romane wie Gespenster im Sumpf, Feuer im Nachbarshaus- Ein Roman von Übermorgen, Eleagabel Kuberus, Die Eier des Basilisken, Der Zauberkäfer, Das Grab des weißen Königs oder Lemuria, unheimliche Geschichten, große Popularität erreichte. Ihm zur Seite stand als Schriftleiter der junge Schriftsteller, Maler und Übersetzer Alfred von Cvibulka (1888-1969).
Einige Sondernummern waren einem speziellen Thema gewidmet, wie beispielsweise das Heft Phantastische Liebesgeschichten (Heft 15/1.Jhg.), Gespensterball (Heft 3/2. Jhg.) Phantastik der Technik (Heft 4/2. Jhg.), zwei Ausgaben mit Detektivgeschichten (Heft 14/2.Jhg. und Heft 16/2.Jhg.), Das galante Abenteuer (Heft 19/2. Jhg), Der Sibirienhilfe gewidmet (Heft 22/2. Jhg.), Elektrodämonen (Heft 23/2. Jhg.), Mode und Masken (Heft 2/3. Jhg.), Hahnreie (Heft 5/3. Jhg.) und Märchen (Heft 7/3. Jhg.).
Trotz der zahlreich hervorragend gestalteten Hochglanz-Magazine, die in den vergangenen Jahrzehnten im Bereich der Phantastik, Fantasy und Science Fiction publiziert wurden, wird Der Orchideengarten von vielen Liebhabern der phantastischen Literatur oftmals als die beste graphisch gestaltete Literaturzeitschrift dieses Genres bezeichnet und stets als ein wertvolles, besonderes Sammlerstück geschätzt und ehrfurchtsvoll in Bücherschränken aufbewahrt. Die Seltenheit der einzelnen Hefte in unserer heutigen Zeit dürfte zumeist auf die eher geringe Anzahl von Abonnenten und der Makulierung der Restbestände zurückzuführen sein. Die Zielgruppe des Der Orchideengarten waren bibliophile, gut betuchte Sammler von Kunst und Literatur; zudem wurde 1920 eine Luxusausgabe auf besserem Papier, mit zusätzlichen Illustrationen, ohne Werbung, in einer Auflage von 50 Exemplaren vom Verlag angeboten.
An dieser Stelle sollte man auf die stets gelungene und ungewöhnliche grafische Gestaltung der farbigen Titelblätter und die hervorragende Auswahl der oftmals expressionistischen, erotisch, schaurig makabren und dramatisch ausdruckstarken schwarz/weiß Illustrationen eines Otto Muck, Heinrich Kley, Karl Ritter, Otto Linnekogel, Alfred Kubin, Ernst Heigenmoser, Max Schenke, Max Krell, Karl Rabus, Otto Lietz, Rudolf von Hoerschelmann, Walter Wellenstein, Anna May, Koro Otei, Erich Godel, Richard Klein, Goya, Albrecht Dürer oder Gustav Doré in den einzelnen Ausgaben des Der Orchideengarten hinweisen, die auch bei oftmaliger Ansicht der illustrierten Blätter den Betrachter stets zu begeistern vermögen.
Neben einer Anzahl von über 100 phantastischen Erzählungen und Gedichten wurden im Der Orchideengarten Beiträge aus dem Bereich der erotischen Literatur, der Abenteuerliteratur, der Kriminalliteratur, der Science Fiction- Literatur, sowie der grotesken und okkulten Literatur veröffentlicht.
Unter den deutschsprachigen Autoren finden sich auch Erzählungen von renommierten Namen wie E. T. A. Hoffmann (Neueste Schicksale eines abenteuerlichen Mannes und Ein Vampir), Ludwig Tieck (Aus der merkwürdigen Lebensgeschichte seiner Majestät Abraham Tonelli), Leo Perutz (Dios Vienne, Bruchstück aus: Der Marques de Bolibar), Alexander Moritz Frey (Versammlung und Die Ernte), Klabund (Biographie, Weibertreu und Das Jeu), Brüder Grimm (Märchen von einem der auszog das Fürchten zu lernen) oder Karl Hans Strobl (Meister Jericho, Die goldenen Gärten, Ballnacht, Die byzantinische Münze und Die letzte Nacht).
Die genaue Durchsicht der über 170 erschienen Erzählungen verdeutlicht, dass die literarische Qualität dieser Zeitschrift das Niveau der grafischen Gestaltung nur selten erreicht. Häufig handelt es sich um Veröffentlichungen skizzenhafter Grotesken, Spukgeschichten oder Impressionen und wegen der geringen Seitenanzahl der einzelnen Ausgaben, oftmals oberflächliche Texte mit skurrilen Einfällen, die literarisch bei den aufmerksamen Lesern keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Unter den Erzählungen der im wesentlichen unbekannt gebliebenen, deutschsprachigen Autoren können Leonhard Stein (Das elektrische Klavier), Paul Frank (18, XII.), Helmuth Unger (Die Fahrt ins Hirn), Kurt Moreck (Der Wille zum Tode), Hans Reisiger (Aus der Dämonenchronik), Oscar. A. H. Schmitz (Geschichte aus einer Nachbarwelt), Rudolf Schneider (Traum und Entdeckung,) Erich Mosse (Die weiße Flöte), Walter Heinrich (Der rasende Leichnam), Johannes Thummerer ( Die schwarze Stadt), Ernst Karl Juhl (Die arme Seele), Karl zu Eulenburg (Athreias Grab), Ernst Grau-Berlin (Das wachsende Bein), Johann Peter Hebel (Heimliche Enthauptung), Alexander Poljenow (Mischa Strongins sieben Versuche), Alfons von Czibulka (Antwort, Merkwürdige Fortsetzung zu der berühmten Chronika des Camille Flammarion „Komet und Erde“, Von einem Tanzmeister, einem Stallknecht und einem Detektiv-und alles dies vor hundertfünfzig Jahren und Das Wiehern in den Transformatoren), Ferdinand Weinhandl (Der Alchemist) und Leopold Plaichinger (Das zersprungene Herz, Der Dreizehnte, Das Baumgespenst, Das Meer, Die Lokomotive- ein Traum, Sherlok Holmes’ letztes Abenteuer, Der Pestball und Aus dem Traumbuch eines Detektivs) überzeugen.
Die Redaktion des Der Orchideengarten veröffentlichte auch klassische Texte englischer, französischer oder russischer Autoren, wie etwa Edgar Allan Poe (Das Fass Amontillado, Die Maske des roten Todes, Froschhüpfer), Rudyard Kipling (Meine selbsterlebte, wahre Geistergeschichte), Guy de Maupassant (Der Teufel, Vater Judas, Ein Narr), Victor Hugo (Der Weg zum Schafott) Alexander Puschkin (Der Sargmacher), Voltaire (Bababec und die Fakire und Cosi Sancta), Arthur Conan Doyle (Der silberne Spiegel), Lord Byron (Finsternis), Karl und Josef Capek (Das tödliche Abendessen, Die lodernde Flamme), H. G. Wells (Der Herr der Dynamos), Auguste de Villers de L’Isle-Adam (Duke of Portland, Die phantastischen Einfälle des Herrn Redoux), Nathaniel Hawthorne (Der Hexenkessel), Irving Washington (Der Bräutigam, ein Gespenst) oder Charles Dickens (Der schwarze Schleier).
„Was die Bedeutung der literarischen Originalbeiträge betrifft, kann sie weder in Konkurrenz mit dem vier Jahre später gegründeten amerikanischen Pulp- Magazin Weird Tales treten, noch mit dem deutschen Magazin Meine Zeitung (1924-1929), in dem weit mehr phantastische Texte erschienen. Der Orchideengarten präsentiert in seinen literarischen Beiträgen mitunter die grellen Auswüchse übersteigerter Phantasien im Spektrum des literarischen Schaffens in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, die den Zeitgeist widerspiegelt“ schrieb Robert N. Bloch, einer der bedeutendsten Kenner, Kritiker und Publizisten der phantastischen Literatur in Der Orchideengarten – Eine komplette Bibliographie, geheftete Broschüre, 52 Seiten, 2011 im Verlag Lindenstruth erschienen.
Heute erfreut sich Der Orchideengarten bei Sammlern und Liebhabern phantastischer Kunst und Literatur großer Beliebtheit, obgleich über den Inhalt der einzelnen Hefte nur wenig bekannt sein dürfte, was jedoch nicht immer auf die Leseträgheit der Liebhaber dieser Zeitschrift zurückzuführen sein dürfte, da der Zustand der einzelnen Heft, bedingt durch das brüchige bedruckte Papier, durch oftmalige Ansicht einen Qualitätsverlust erleiden könnte.
In einem von Dr. Max Kemmerich betreuten, ständig erschienenen Rezensionsteil Phantastische Bücher wurden regelmäßig Neuerscheinungen von Romanen aus dem Bereich der phantastischen und okkulten Literatur vorgestellt sowie die ebenfalls ständig erschienene Rubrik Das Treibhaus – Wunderliches und Absonderliches – in welcher häufig auf okkulte oder nichterklärbare, zum Teil historische Phänomene hingewiesen wurde. Ab dem Heft 18 im 2. Jahrgang, wurde zusätzlich die allerdings nur dreimal erschienene Rubrik Sterndeutung, die von Karl von Eulenburg betreut wurde und sich mit Astrologie beschäftigte, abgedruckt. Fünf bis sechs Seiten Werbung, in denen zumeist Anzeigen von Fotogeschäften, Kaufhäusern, Stempel-Fabriken und neu erschienene Büchern präsentiert wurden, bildeten den würdigen Abschluss jeder Ausgabe.
Gegen Mitte des dritten Jahrgangs 1921 wurde Der Orchideengarten wegen mangelnder Abonnenten und Käufern eingestellt. 1927 beendete der Dreiländerverlag seine Tätigkeit und makulierte die restlichen Bestände der Zeitschrift.
In der im Herbst 1918 erschienen Probenummer wurde der Zweck der Publikation des Der Orchideengarten folgendermaßen umrissen:
„Heute, da das unleugbare deutlich wird, dass alles Leben phantastisch sich vollendet, bewegt sich alle Kunst auf einer geraden Linie dem absolut Phantastischen zu. Auf einem Weg, den sie seit ihren Uranfängen ging, denn alle Kunst ist Phantastik, weil sie uferlos und unbegreiflich ist. Und unbegreiflich, uferlos und phantastisch ist eins. Immer deutlicher und verständlicher wird dieser Weg. Es ist die Notwendigkeit einer Arbeit, die diese Ströme uferlosen Geistes in die Menge leitet, durchaus ersichtlich. So entstand diese phantastische Schau. Alle Phantastik, Groteske, künstlerische Moritat, Grauen, Spannung, Spuk und Abenteuer werden einander, wenn sie künstlerisch geformt sind, im Orchideengarten ein wunderliches Stelldichein geben“.
*Ergänzung des Herausgebers bezüglich Karl Hans Strobl: Strobl war österreichischer Schriftsteller, ab 1933 Angehöriger der NSDAP. Ab 1938 war er Landesleiter der Reichschrifttumkammer RSK in Wien. Er verfasste einen Beitrag für das Bekenntnisbuch österreichischer Dichter, ein Jubelband für den Anschluss. In der sowjetischen Besatzungszone wurde ein Teil von Strobls literarischem Werk auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.
Für diese Neuveröffentlichung wurde der Text in Form und Stil sanft korrigiert und dem Medium angepasst, um Links und Cover ergänzt. Es fand keine inhaltliche Veränderung statt, wohl aber ist die Ergänzung über Karl Hans Strobl vom Herausgeber hinzugefügt worden. Autor des Artikels – die Ergänzung zu Karl Hans Strobl ausgenommen – ist Robert M. Christ.
Der Beitrag [LITERATURWISSEN]: Der Orchideengarten erschien am 04.03.2019 auf Kultplatz.net …
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Beautiful review!